Neue Pflicht zur Arbeitszeiterfassung für alle?
„Die Kanzlei Michaelis Rechtsanwälte hat erhebliche Zweifel."
Liebe Mandantinnen und Mandanten,
liebe Versicherungsmaklerinnen und Versicherungsmakler,
es hat keine lange Zeit gedauert, bis der Beschluss des Bundesarbeitsgerichtes vom 13.09.2022 (BAG 1 ABR 22/21) weite Kreise in der Fachwelt, also z.B. in der Arbeitsrechtswelt, aber auch bei vielen Unternehmern, insbesondere auch im Markt der Versicherungsmakler (mit ihrem Vertrieb, mit ihrem Außendienst) gezogen hat. Es hat z.B. nur wenige Stunden gedauert, bis einschlägige Veranstalter von arbeitsrechtlichen Fortbildungsseminaren mit dem Titel „Paukenschlag" entsprechende Seminare mit führenden Arbeitsrechtlern als Referenten angeboten haben. Und es hat viele sehr berechtigte Anfragen, gerade aus dem Kreis der Versicherungsmakler hier in der Kanzlei gegeben, mit der Frage, was dies nun für den Arbeitsalltag eines Arbeitgebers bedeutet.
Was war geschehen?
Um folgenden Fall ging es vor dem Bundesarbeitsgericht: Eigentlich ging es um eine kollektiv-rechtliche Angelegenheit, also um eine Streitigkeit zwischen einem Betriebsrat und einem Arbeitgeber aus dem Berufsfeld Pflege. Es hatte dort bereits im Jahre 2019 eine Betriebsvereinbarung (Vertrag zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber) zum Thema Arbeitszeit gegeben. Offen war aber noch, ob es auch eine Betriebsvereinbarung zur Einführung und Anwendung einer elektronischen Zeiterfassung geben solle. Bei solchen Streitigkeiten zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber gibt es nach dem Betriebsverfassungsgesetz die Möglichkeit, eine sogenannte Einigungsstelle einzurichten. Die Einigungsstelle ist ein Gremium, in dem beide Seiten (Betriebsrat und Arbeitgeber) eine festzulegende gleichgroße Anzahl von Beisitzern entsenden. Den Einigungsstellenvorsitz übernimmt jemand, auf den sich die Parteien einigen. In der Praxis sind dies sehr häufig renommierte Arbeitsrichter. So soll versucht werden, durch Abstimmung in der Einigungsstelle eine Einigung herbeizuführen.
Gegen die Einführung einer solchen Einigungsstelle wegen elektronischer Zeiterfassung richtete sich in diesem Fall der Arbeitgeber. Der Arbeitgeber meinte, dass es keinen Anspruch des Betriebsrates gebe, in einem solchen Falle eine Einigungsstelle einzurichten. Dies wurde von der Arbeitsgerichtbarkeit bis zum Landesarbeitsgericht Hamm anders gesehen. Das Bundesarbeitsgericht entschied dann aber für den Arbeitgeber, wobei es der Tenor der Entscheidung ist, welcher vielen Arbeitgebern jetzt so viele Sorgen bereitet:
Denn die Argumentation des Bundesarbeitsgerichtes war es, dass der Arbeitgeber nach § 3 Absatz 2 Nummer 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) verpflichtet sei, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden könne. Und weil dies so sei, könne der Betriebsrat eben nicht die Einführung eines Systems der (elektronischen) Arbeitszeiterfassung im Betrieb mit einer Einigungsstelle erzwingen. Ein entsprechendes Mitbestimmungsrecht bestehe nur, wenn und insoweit die betriebliche Angelegenheit nicht schon gesetzlich geregelt ist, was hier der Fall sei.
Man muss nun wissen, dass bisher von diesem Beschluss des Bundesarbeitsgerichtes vom 13.09.2022 nur eine Pressemitteilung (also noch kein vollständiges Urteil) vorliegt. Man liest bisher noch nichts von einer allgemeinen Pflicht zur Einführung einer (elektronischen) Zeiterfassung. Genau genommen liest man nicht einmal, dass ein Arbeitgeber (nicht einmal der Arbeitgeber des BAG-Falls) aufgrund der zitierten Regelung im Arbeitsschutzgesetz immer dazu verpflichtet sei, (elektronische) Arbeitszeiterfassung vorzuhalten.
Denn in § 3 Absatz 1 ArbSchG steht: „Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen ..."
In dem vom Bundesarbeitsgericht zitierten § 3 Absatz 2 Nr.1 ArbSchG steht dann, dass „zur Planung und Durchführung der Maßnahmen nach Absatz 1 ... der Arbeitgeber unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten für eine geeignete Umsetzung zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen ..." hat.
Nach dem Wortlaut der vom Bundesarbeitsgericht zitierten Regelung kann es also Arbeitgeber geben, die in Bezug auf den Gesundheitsschutz ihrer Mitarbeiter „unter Berücksichtigung der Umstände", die Verpflichtung, „erforderlichen" Maßnahmen zu ergreifen, „nach der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten" mit einer „geeigneten" Organisation und mit „erforderlichen" Mitteln begegnen können, die eben nicht (elektronische) Zeiterfassung bedeuten müssen.
Der Beschluss am 13.09.2022 stammt vom Ersten Senat des Bundesarbeitsgerichtes. Gegen eine allumfassende Verpflichtung, dass ab jetzt jeder Arbeitgeber, für alle Arbeitnehmer, Zeiterfassung einführen müsse, spricht auch ein sehr aktuelles Urteil des Fünften Senats des Bundesarbeitsgerichtes aus dem Monat Mai 2022: Dort hatte das Bundesarbeitsgericht in einer Vergütungsklage wegen Überstunden entschieden, dass eine unterlassene Zeiterfassung durch den Arbeitgeber nicht etwa dazu führe, dass die Beweislast für Überstunden nicht mehr auf der Arbeitnehmerseite liege. Zwar gebe es eine EU-Richtlinie und ein diesbezügliches Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), nach der Zeiterfassung durch Arbeitgeber vorgeschrieben sei. Dies betreffe jedoch „nur" den Bereich des Gesundheitsschutzes und habe keine Folgen für den Bereich der Arbeitsvergütung.
Anders formuliert gibt es also nach aktueller Auffassung des Bundesarbeitsgerichtes in einem der wichtigsten Punkte beim Thema Arbeitszeit, bei der Vergütung, keine Sanktionen für den Arbeitgeber, wenn dieser keine Zeiterfassung anbietet.
Es gibt (bisher) auch nur eine ausdrückliche Regelung im deutschen Arbeitszeitrecht (abgesehen von Dokumentationspflichten in Bezug auf Mindestlohn und in bestimmten Branchen, wie z.B. dem Reinigungsgewerbe), welche die Arbeitgeberseite zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet. Diese steht im § 16 Absatz 2 Satz 1 ArbZG und lautet wie folgt: „Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die über die werktägliche Arbeitszeit ... hinausgehende Arbeitszeit der Arbeitnehmer aufzuzeichnen und ein Verzeichnis der Arbeitnehmer zu führen, die in einer Verlängerung der Arbeitszeit ... eingewilligt haben. Die Nachweise sind mindestens zwei Jahre aufzubewahren."
Im deutschen Arbeitszeitrecht gibt es also bisher nur eine Rechtsgrundlage (bußgeldbewährt), nach der lediglich bei vereinbarten Überstunden, Arbeitszeitnachweise zu führen sind.
Und es gibt nun (eingeschränkt wohl auf besondere Umstände) nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichtes vom 13.09.2022 arbeitgeberseitige Verpflichtungen, im Bereich des Gesundheitsschutzes nach den Voraussetzungen des Arbeitsschutzgesetzes Arbeitszeiterfassung als Arbeitgeber vorzuhalten.
Die Kanzlei Michaelis Rechtsanwälte ist jedenfalls bisher, nach einer ersten Bewertung der Entwicklung, der Auffassung, dass der Beschluss des Bundesarbeitsgerichtes vom 13.09.2022 nicht etwa flächendeckend eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung eingeführt hat, sondern dass man die aktuelle Entwicklung jedenfalls deutlich differenzierter betrachten muss.
Rechtsanwalt Dr. Freitag fühlt sich auch dadurch gestärkt, dass er wenige Tage nach dem 13.09.2022 die Gelegenheit hatte, an einer Fortbildung mit einem Richter des Achten Senates des Bundesarbeitsgerichtes teilzunehmen (der aktuelle Beschluss vom 13.09.2022 stammt aus dem Ersten Senat / das Vergütungsurteil mit dem Hintergrund Arbeitszeiterfassung kommt vom Fünften Senat). Die These des Referenten und Bundesarbeitsrichters aus dem Achten Senat war dabei, dass seine Einschätzung sei, dass es dem Bundesarbeitsgericht bzw. den dort zuständigen Senaten wohl in der Hauptsache darum gehe, einmal wieder ein „Wink mit dem Zaunpfahl" gegenüber dem Gesetzgeber zu geben, dass eine umfassendere Regelung der Arbeitszeiterfassung im deutschen Arbeitsrecht nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichtes überfällig sei. Dies ergebe m.E. auch Sinn, denn viele Themen sind weder europarechtlich abschließend geregelt, noch gibt es in Europa oder beim deutschen Gesetzgeber Klarheit in so wichtigen Fragen, wie man zum Beispiel mit dem großen Thema „Vertrauensarbeitszeit" umgeht.
Gerade das Thema „Vertrauensarbeitszeit" dürfte auch im Markt der Versicherungsmakler eine sehr bedeutende Rolle spielen, insbesondere wenn man auf den Vertrieb, auf den dortigen Außendienst schaut. Bisher hat Dr. Freitag die Diskussion so wahrgenommen, dass im Grunde politisch niemand will, dass es zu einem Ende der Vertrauensarbeitszeit kommt. Sowieso muss man feststellen, dass sich die Debatte um die Zeiterfassung bei Arbeitnehmern doch ein wenig gewandelt hat. Dies wird gerade beim Blick auf das Thema „Vertrauensarbeitszeit" deutlich. In einer Arbeitszeiterfassung liegt – man kann es drehen und wenden wie man möchte – auch immer eine Überwachung von Arbeitnehmern durch die Arbeitgeberseite. Dies wurde in der Vergangenheit mit Begrifflichkeiten wie „Stechuhr" häufig auf der Arbeitnehmerseite kritisiert. Natürlich bietet die moderne Arbeitswelt mit Arbeitsverdichtung, mit Themen wie Mindestlohn oder auch mit bewusst und berechtigt gesetzten Grenzen im Rahmen des Arbeitszeitgesetzes Bedürfnisse danach, zum Schutz von Arbeitnehmern auch Arbeitszeitgrenzen überwachen zu können.
Ob dies für alle Bereiche wünschenswert und tatsächlich immer im Sinne der Arbeitnehmerseite ist, lässt allerdings berechtigte Fragen aufkommen. Denn eine Vertrauensarbeitszeit, z.B. im Versicherungsmaklervertrieb im Bereich des Außendienstes, ist nicht nur ein Vertrauensbeweis von Arbeitgebern gegenüber Arbeitnehmern, sondern letztlich auch im Interesse aller Beteiligten. Denn nicht nur für Arbeitgeber ist Flexibilität von Arbeitnehmern wichtig, auch Arbeitnehmer werden es schätzen, ihre Arbeitszeit selbstbestimmt flexibel gestalten zu dürfen.
Die Debatte wird aber sicher weitergehen. Der Eindruck von Dr. Freitag, Fachanwalt für Arbeitsrecht ist es, dass es irgendwann zu einer umfassenderen gesetzlichen Regelung bezüglich der Arbeitszeiterfassung im deutschen Arbeitsrecht kommen wird, dass aber die Vertrauensarbeitszeit erhalten bleibt.
Bis zu einer umfassenderen Neuregelung im deutschen Arbeitsrecht dürfte es auf Arbeitgeberseite Sinn ergeben, darauf aktuell noch im Rahmen der Arbeitsvertragsgestaltung zu reagieren. Dabei gibt es unterschiedliche Ansatzpunkte. Einer könnte tatsächlich sein, den Arbeitsanfall im eigenen Unternehmen so zu steuern, dass keine Überstunden notwendig sind und arbeitsvertraglich diesbezüglich auch keine Verpflichtungen auferlegt werden. Man hat dann zwar als Arbeitgeber keinen Anspruch darauf, Weisungen bezüglich Überstunden geben zu dürfen (was Überstunden in einer vertrauensvollen Zusammenarbeit aber nicht ausschließt). Man ist dann aber, jedenfalls nach den jetzigen gesetzlichen Regelungen, nach menschlichem Ermessen nicht verpflichtet, Arbeitszeiterfassung durchzuführen.
Kommen Sie gut durch den Herbstanfang!
Herzliche Grüße,
Ihr,
Stephan Michaelis LL.M.
Fachanwalt für Versicherungsrecht
Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht